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(225) Über-be-arbeitet

Ton, Holz, Stein und vieles mehr kann man (künstlerisch) bearbeiten. Die Arbeit mit Ton auf der Töpferscheibe habe ich viele Jahre fast schon semiprofessionell ausgeübt. Der Ton zeigt mir ganz konkret, wenn ich ihn überstrapaziere, zu stark bearbeite. Mein gerade gedrehtes Gefäß fällt in sich zusammen und ist damit rettungslos zerstört. Das Drehen auf der Töpferscheibe hat auch etwas Meditatives und schult sehr die Achtsamkeit. Beim Drehen mit Ton muss man so ganz bei sich sein, voll im gegenwärtigen Moment. Man muss den Ton ständig spüren, seine Tragfähigkeit erspüren.

Aufgegeben habe ich das Drehen an der Töpferscheibe
leider wegen beruflicher Überlastung, wegen Überarbeitung. Zu hohe Selbsteinschätzung oder aber auch extreme Ausbeutung durch Vorgesetzte führten schließlich bei mir um Zusammenbruch, zum Burnout, womit ich vorher nie gerechnet hätte. Vielleicht hätte ich das Drehen auf der Scheibe beibehalten sollen, auch als Ausgleich zum verkopften Arbeiten. Heute sehe ich das so, vielleicht auch weil mir Achtsamkeit in den letzten Jahren immer mehr bedeutet, immer mehr hilft. Hätte ich sie nur damals schon so gut gekannt.

Bearbeitet werden aber auch Bilder, Fotografien. Viele Fotografierende sprechen zwar beim Bearbeiten von RAWs vom "Entwickeln" in An
lehnung an den Prozess. Dennoch ist es ein Bearbeiten, das auch sehr stark subjektiv und interpretierend geprägt ist. Bearbeiten ist immer auch ein  Verändern. Ich habe in den vergangenen Tagen viele Stunden mit der Bildbearbeitung verbracht und auch immer wieder festgestellt, dass mir Bearbeitungen des Vortages plötzlich nicht mehr gefielen. Entweder waren sie mir zu farbintensiv oder zu blass. Teilweise sagte mir der Schnitt, an dem ich vorher lange gefeilt hatte, plötzlich nicht mehr zu. Auch mit der Schärfe oder dem Kontrast hatte ich es immer mal wieder über- oder untertrieben. „Out of Cam“ lese ich immer mal bei Bildern im Netz, das soll wohl Objektivität vorgaukeln, aber schon in der Kamera erfolgt eine automatische Bearbeitung der Daten. Auch in der analogen Fotografie war beim Entwickeln eine Beeinflussung des Bildes möglich, schon die Wahl des Films entschied und entscheidet heute noch über die Bildwirkung. Das objektive Bild gab es analog nicht und gibt es digital erst recht nicht.

Im Netz finden sich viele über-bearbeitete Bilder, auch die Nutzung von Smartphones und entsprechender Apps steigert das Ganze noch. Viele Profile bspw. auf Instagram geben davon Zeugnis. Für "anspruchsvollere" Fotografie  sind sogenannte Presets ein regelrechtes Geschäftsmodell, besondere Looks zu allen möglichen Anlässen werden da versprochen
und gekauft. Über den Ersatz des Himmels durch Software habe ich mich ja schon früher mal hier im Blog ausgelassen. Auch bei Wettbewerben muss ich leider immer wieder feststellen, dass über-bearbeitete oder durch Photoshop stark verfremdete oder neu komponierte Bilder noch bewertet werden.

Mein Fazit: Das
konkrete Bild hat auch Achtsamkeit verdient, es kann und soll verbessert oder optimiert werden. Extreme Veränderungen dagegen hat es nicht verdient. Wenn man Bilder durch Überbearbeitung überstrapaziert, fallen sie auch irgendwie in sich zusammen und werden unglaubwürdig. Jede Bearbeitung ist Interpretation, gerade deshalb macht es für mich Sinn nahe am Bild zu bleiben. Ich habe mir angewöhnt meine Bearbeitungen mit einem gewissen zeitlichen Abstand nochmals anzuschauen und ggf. zu korrigieren. Das schulde ich meinem Verständnis von Fotografie und Achtsamkeit.

 

P.S.: Das heutige Bild ist in seiner Bearbeitung für mich schon grenzwertig. Wie siehst du das? Wie stehst du zu Bildbearbeitung? Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen. Die Kommentarfunktion hab ich wieder freigegeben. 

 

 

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Kommentare: 5
  • #1

    Georg B. (Sonntag, 08 Mai 2022 10:10)

    Hallo Wilfried,
    ich bin absolut deiner Meinung, die Interpretation des Motivs beginnt schon mit der Wahl des Aufnahmegerätes (Fuji mit APS, Canon mit FF usw.), wodurch andere Bildeindrücke produziert werden. Fortgesetzt wird dies mit der Wahl der Brennweite (WW oder Tele?), der Film-Simulation usw.
    Kurz: Fotografie ist Interpretation, Gute Fotografie ist eine Gute Interpretation.
    Ich persönlich arbeite bewußt mit Lightroom, nicht mit Photoshop. Der Grund ist recht simpel: Interpretationen, die Lightroom erlaubt, befinden sich meistens in meinen persönlichen Grenzen, Reparaturen oder Veränderungen mit Photoshop, wie vervielfachen des Motives, Reparatur der Nase der Nofretete oder ähnliches geht mir zu weit. Wenn so profane Dinge wie Strommasten, Mülltonnen oder ähnliches im Bild sind, stelle ich mir erstens die Frage, ob ich das überhaupt fotografieren möchte, und zweitens ob ich abschließend versuche diese wegzustempeln oder als Teil des Bildes zu sehen. Meine Antworten hierauf sind sehr unterschiedlich.
    Zu deinem Bild: Ich empfinde die 'Interpretation' nicht grenzwertig, mir ist nur nicht klar, welches Ziel dabei verfolgt wurde. Zumindest an meinem Monitor erscheint es ein wenig 'Über-Blau'. Da ich das Ursprungs-Material nicht kenne, ist es schwer gute Ideen zu verbreiten wie man es machen könnte. Ich hätte mal probiert. ob man die Wolkenstruktur in Szene setzen kann. Oder das Grafitti auf dem Stein bewußt verstärken ohne den Stein ins rötliche abdriften zu lassen. Oder den Himmel etwas beschnitten - vielleicht sogar den Stein angeschnitten. Kurz: Nicht weniger, sondern anders. Das ein oder Andere kann auch im Rahmen der Aufnahme schon unterstützt werden durch Wahl der Parameter. Womit sich für mich der Kreis schließt: Für die Bildwirkung ist der Fotograf zuständig, nicht Photoshop.
    So, wenn du mich jetzt hauen willst, demnächst hast du ja Gelegenheit :-)
    Gruß
    Georg

  • #2

    Andrea Tex (Montag, 09 Mai 2022 18:10)

    Hallo Wilfried,

    bin ganz Deiner Meinung. Ich habe es aufgegeben, zu lange am Rechner zu sitzen und Bilder zu bearbeiten. Und ja im Netz, in den Foren wie Insta oder flickr sind Fotos die schon an Kunst grenzen und mit der Achtsamkeit nichts mehr zu tun haben. Da ich auch in einer privaten Fotogruppe bin sehe ich bei fast allen mitlerweile das sie ihre Bilder überhaupt nicht bearbeiten. „Ist ja dann nicht mehr das was ich fotografiert habe…“.
    Mitlerweile helle ich nur die Schatten etwas auf. Oder mach nur in SW.
    Weniger ist mehr �� Und zur richtigen Zeit am richtigen Ort�

    VG

  • #3

    Andrea (Montag, 09 Mai 2022)

    Dies Bild mit dem bemalten Stein find ich ok. So ist es. Das Blau des Himmels und des Wassers kommt gut rüber. Und die bunte Schrift des Steines fällt ins Auge.
    VG

  • #4

    Oli (Montag, 16 Mai 2022 22:47)

    Hm.
    Also ich mache bewusst OoC - also JPEGonly. Mit der Fuji - und deren eingebaute Möglichkeiten der direkten Bildentwicklung. Warum?
    Unter anderem, weil ich keine Lust mehr auf Bildentwicklung in Lightroom mehr habe, weil das JPG oft gleich gut oder gar besser als meine LR-Künste sind, weil ich versuchen möchte den Moment, das Bild, den Eindruck so wie ich ihn wahrgenommen habe „unverfälscht“ weiterzugeben. Auch weil ich manche JPG Rezepte „interessant“ finde (Aged Polaroid 80th Style).
    Ein bisschen steht da auch Revoluzertum dahinter - anders sein.

    Ich vernehme oft kritische Fragen (Ist das Korn oder rauscht das da so?) oder Hinweise (Horizont gerade! Mach die Spiegelungen im Lack weg! ) - aber die stören mich nur im ersten Moment. Würde ich da gescannte Dias hochladen, würde das sicher zur Ikone erklärt werden.

    Ich fotografiere für MICH.
    MIR muss es gefallen.
    Trotzdem freue ich mich über Kommentare. Wenn sie ehrlich sind.

    Dein Bild ist natürlich eine Katastrophe! Überzogene Farben, keine Drittellinie/goldener Schnitt - und dann die zwei Möven! Bitte! ;-)

  • #5

    Wilfried Humann (Dienstag, 17 Mai 2022 17:36)

    So, jetzt komme ich endlich mal dazu, euch zu antworten! Mehrere heftige Kopfschmerzattacken haben mich deutlich ausgebremst. Vielen Dank für eure Kommentare!

    Hallo Georg,
    Fotografie ist immer Interpretation, die Frage ist dann halt, wie intensiv ich drangehe. Lightroom hat auch für mich die Möglichkeiten, die mir ausreichen. Und bevor ich störendes wegstemple, acht. ich schon beim Fotografieren drauf, solche Dinge erst gar nicht einzufangen. Mein Bild finde ich weiterhin grenzwertig, deine Vorschläge sind sehr konstruktiv - das Hauen bleibt also aus! Ich freu mich aufs Wiedersehen!

    Hallo Andrea,
    ich versuch auch, wo wenig wie möglich zu bearbeiten. Da ich aber in RAW fotografiere, sind natürlich einige Schritte notwendig. Manchmal neige ich dann aber doch zum Übertreiben, was ich aber meist beim nochmaligen Durchschauen mit einem gewissen zeitlichen Abstand wieder relativiere.

    Hallo Oli,
    Familienbilder - vor allem von den Enkelkindern - gebe ich inzwischen meist auch OoC weiter. bei meiner weiteren Fotografie (Landschaft-, Städte- und Reisefotografie nutze ich schon gerne die Reserven, die RAW mir bietet. Da sehe ich auch deutliche Unterschiede zwischen dem JPEC aus der Kamera und dem bearbeiteten (nicht überbearbeiteten) RAW. Allerdings bin ich ja auch im Ruhestand und habe Zeit für die Bildbearbeitung, obwohl ja Rentner eigentlich nie Zeit haben. Rauschen oder schiefer Horizont stören mich schon, die Spiegelungen im Lack weniger, die finde ich sogar immer mal wieder interessant. Wie du fotografier ich auch zuerst einmal für mich, mir müssen die Bilder gefallen. Zu meiner "Katastrophe" stehe ich, abgesehen von den Farben. Auf der Burg können wir ja gerne weiterdiskutieren.

    Liebe Grüße an euch
    Wilfried