Vor ca. drei Wochen hatte ich einige Stunden Wartezeit in einer kleinen unterfränkischen Stadt mit einer sehr schönen Altstadt. Die Kamera war nicht dabei, mental
war mir auch nicht zum Fotografieren zumute. Mich aber stundenlang in ein Cafe setzen, wollte ich aber auch nicht. Also machte ich einen Altstadtrundgang. Ich entdeckte eine Reihe interessanter
Ecken, die auch gute Motive gewesen wären: enge Gassen, eine alte Kirche, ein schöner Marktplatz mit altem Rathaus, ein kleines Schloss, ein Stück Stadtmauer, der Main mit einer historischen
Brücke, ... . Mit wachen Blicken habe ich mir trotz einer situationsbedingt inneren Unruhe alles angeschaut und irgendwie auch in mich aufgenommen.
Jetzt beim Schreiben kommen mir viele Bilder, die ich nicht gemacht habe, aber mit Kamera sicherlich gemacht hätte, wieder in den Sinn. Irgendwie habe ich also ohne Kamera fotografiert. Sogar
Straßenszenen (streets), die ich dort beobachtet habe, kommen wieder hoch. Menschen, die ich dabei gesehen habe, sehe ich wieder vor mir. Irgendwie ist das doch höchst interessant. War ich
nicht eigentlich der Meinung, ein Stadtrundgang lohnt sich für mich nur, wenn ich dabei fotografieren kann, wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes etwas mitnehmen kann, auch wenn es nur digital
auf der Speicherkarte ist. Ich überlege mir, ob ich Städtetripps eigentlich nur wegen der vielen Fotomotive so sehr liebe. Ohne Kamera unterwegs zu sein, ist eigentlich fast undenkbar für mich.
Bekannte fragten mich schon mehrfach, ob die Kamera bei mir angewachsen sei, weil sie mich eigentlich nie ohne sehen. Das Erlebnis in der kleinen unterfränkischen Stadt hat mich recht
nachdenklich gemacht. Kann ich auch ohne Kamera sinnvoll und erfüllend unterwegs sein?
Vor einigenTagen machte ich die Probe aufs Exempel, ich hatte eine Stunde Wartezeit in einem recht schönen kleinen Dorf in der Rhön. Trotz herrlichem Wetter habe
ich die Kamera bewusst zuhause gelassen. Wieder sind es viele Bilder, die ich jetzt dennoch vor mir sehe: ein altes Sägewerk mit z. T. schön-maroden Gebäuden, die Dorfkirche, ein kleiner Bach,
ein Gemeindemitarbeiter, der gerade einen Brunnen "kärchert", ein schmaler Pfad zwischen zwei Häusern, der unvermutet zu einem herrlich weiten Blick über ein frühlingsgrünes Tal führt, ... . Ich
kann also fotografieren ohne Hilfsmittel wie Kamera oder Handy. Sparsam ist es auch noch, es braucht keine Akkuleistung, keinen Festplattenplatz, keine Arbeitszeit bei der
Bildbearbeitung.
Klar kann ich die Bilder niemandem zeigen, aber geht es vielen wirklich fotografierten Bildern nicht genauso. Sie landen auf der Festplatte, werden vielleicht noch bearbeitet, geraten irgendwann
ins Vergessen durch neue Bilder. Nur ganz wenige werden wirklich gezeigt, im Familienkreis, bei Bekannten, im Netz oder vielleicht noch beim Fotostammtisch. Rund ein Terrabite an
Bildmaterial lagert auf meiner Festplatte und wird auch noch mehrfach gesichert, sicherlich zigtausende Bilder, von denen vermutlich die wenigsten noch einmal intensiv angeschaut werden.
Höchstens wenn ich mal ein bestimmtes Bild suche, werden sie schnell durchgeklickt. Dazu kommen noch mehrere tausend Dias aus meiner analogen Zeit.
Jetzt will ich natürlich weder dir noch mir den Spaß am Fotografieren verderben. Ich will auch überhaupt nicht komplett darauf verzichten. Ich fand und finde das
Ganze lediglich bedenkenswert. Diese nachdenklichen Gedanken und die erinnerten Bilder kamen mir in den letzten Tagen als ich geplagt von einer deftigen Erkältung im Bett lag. Nachdenken
ging immerhin noch. Für mich ist auch die Erkenntnis, die sicherlich auch etwas mit Achtsamkeit zu tun hat: Man kann auch ohne Kamera fotografieren und ich werde das immer mal wieder tun. Das ist
sicherlich auch eine gute Achtsamkeitsübung, ohne Ablenkung durch die Technik der Kamera zu "Fotografieren". Aber auf das Betrachten der Bilder nach einem Kameraeinsatz und auch auf das
Bearbeiten der RAWs möchte ich nicht verzichten. Dazu macht mir das viel zu viel Spaß, auch wenn es immer wieder Enttäuschungen gibt, weil Bilder nicht so geworden sind, wie ich es erwartet habe
oder weil ich einen groben Fehler gemacht habe.
Und was hat es mit dem "wunderschönen guten Morgen" auf sich? Ich habe mich vorgestern vormittags wegen oder mit meiner Erkältung zum Hausarzt geschleppt. Im Wartezimmer saß nur ein
Patient, was bei meinem Hausarzt aber nicht unbedingt eine kurze Wartezeit erhoffen lässt. Es war ein sicherlich 20 Jahre älterer mir unbekannter Mann, den ich mit "Guten
Morgen" begrüßte. Er wünschte mir daraufhin "einen wunderschönen guten Morgen", was mich erst einmal verblüffte, dann aber so unerwartet freute, dass ich es ihm auch sagte. Wir kamen dann trotz
meines Brummschädels in ein gutes Gespräch, das die Wartezeit bis zu seinem Aufruf sehr kurzweilig werden ließ. Meine Stimmung hob sich deutlich, ein kleines Wort mehr in einem
Alltagsgruß hat so intensiv gewirkt. Wir hätten uns vermutlich ansonsten im Wartezimmer angeschwiegen, jeder hätte isoliert vor sich hin gegrübelt. Die Wartezeit hätte sich gezogen, und dieses
kleine Erlebnis würde mir fehlen. "Zuhören können und ein gutes Wort zur rechten Zeit hilft dem andern und mildert sein Leid." - Diese Redensart stimmt wirklich!
Da die ungemachten Bilder leider nicht abgebildet werden können, gibt es heute mal ein Doppelselfie.